Die tiefere Dimension des Vaterunsers (Teil 1)

Das Vaterunser kann durchaus als Gemeindegebet gesehen und gebetet werden, es hat aber darüber hinaus eine tiefere prophetische Dimension, die wir hier beleuchten möchten.

Ich bete das Vaterunser nahezu täglich. Es berührt praktisch jeden Lebensbereich. Es zeigt mir, was Gott wichtig ist, und es gibt etwas von der tiefen Weisheit unseres Herrn wieder. Unzähligen Christen ist es eine Hilfe in Nöten. Das Vaterunser wird von manchen als «Mustergebet» bezeichnet, das für viele Anliegen spricht und alle Lebensbereiche abdeckt. 

Die gesamte von Gott inspirierte Heilige Schrift dient der Gemeinde und ist ihr nützlich zur Lehre und Weiterführung (2.Tim 3,16). Gerade deshalb ist es wichtig, darauf zu achten, in welchem Zusammenhang der jeweilige Text steht, und ihn das sagen zu lassen, was der Autor auch ursprünglich gemeint hat. Dies ist die sogenannte «heilsgeschichtliche» Herangehensweise an die Bibel. Professor Dr. Helge Stadelmann schreibt in Heilsgeschichte verstehen, «dass es sinnvoll ist, als Christ heilsgeschichtlich zu denken. Es geht von der Beobachtung aus, dass ohne ein heilsgeschichtliches Bibelverständnis die Auslegung und vor allem die Anwendung ganzer Teile der Heiligen Schrift häufig misslingt. Ist die Bibel der Schatz der christlichen Gemeinde, verarmt sie, wenn ihr heilsgeschichtliche Erkenntnis fehlt. An die Stelle eines Denkens von Gott her, das immer konsequent danach fragt, was Gott selbst für wen und für welche Zeit gesagt hat, tritt dann ein Ansatz, der bei der Bibellese von dem ausgeht, was den Menschen gerade persönlich anspricht. Grosse Teile der Bibel können so gar nicht mehr eingeordnet werden und werden übergangen. Wer dagegen mit Heilsgeschichte vertraut ist, wird die ganze Bibel mit Gewinn lesen» (S. 7).

Man mag sich fragen, was das denn nun mit dem Vaterunser zu tun hat. Vielleicht mehr, als wir im ersten Moment ahnen …

Unmittelbar bevor der Herr Seine Jünger das Vaterunser beten lehrte, sagte Er: «Und wenn ihr betet, sollt ihr nicht plappern wie die Heiden; denn sie meinen, sie werden erhört um ihrer vielen Worte willen. Darum sollt ihr ihnen nicht gleichen! Denn euer Vater weiss, was ihr benötigt, ehe ihr ihn bittet» (Mt 6,7-8). Der Herr machte damals einen deutlichen Unterschied zwischen Seinen Jüngern und den Nationen. Sie, die jüdischen Jünger, sollten nicht beten wie die Heiden. Jesus selbst kam als Jude zu Juden, in Sein Eigentum (Joh 1,11) und unter das Gesetz getan (Gal 4,4). Den Neuen Bund setzte Er erst kurz vor Seinem Tod ein (Lk 22,20). Da die spätere Gemeinde, bestehend aus Juden und Heiden, zu diesem Zeitpunkt, als der Herr das Vaterunser lehrte, noch nicht Offenbarungsgegenstand war, wird klar, dass es sich hier zunächst um ein jüdisches Gebet handelt.

Die Inhalte des Vaterunsers kommen in ähnlicher Form bereits im Alten Bund vor, der Israel galt (vgl. Jes 63,15-16). In Jeremia 31 gibt der Heilige Geist eine auffällige Parallele zum Vaterunser. Dieses Kapitel beschreibt die Zukunft Israels.

«Vater unser»: «Weinend kommen sie, und unter Flehen führe ich sie … denn ich bin Israel zum Vater geworden, und Ephraim ist mein Erstgeborener» (Jer 31,9). Die Wiederherstellung Israels, die ab Vers 1 erwähnt wird, führt Israel dahin zurück, dass Gott sein Vater wird, so wie Er jetzt der Vater der Gemeinde ist. Im Hinblick auf diese Zukunft lehrte Jesus Christus Seine jüdischen Jünger dieses Gebet. Es ist ein prophetisches Gebet, das letztendlich der gläubige Überrest in der Trübsal beten wird.

«Und führe uns nicht in Versuchung, sondern errette uns von dem Bösen»: «Denn der Herr hat Jakob losgekauft und ihn aus der Hand dessen erlöst, der mächtiger war als er» (Jer 31,11). Das wird in der Zukunft der Antichrist sein. So betete der Herr schon in Seinem hohenpriesterlichen Gebet: «Ich bitte nicht, dass du sie [die Jünger] aus der Welt nimmst, sondern dass du sie bewahrst vor dem Bösen» (Joh 17,15). Jesus betete zu diesem Zeitpunkt nicht für die Entrückung Seiner Jünger, sondern dass sie vor dem Bösen bewahrt werden. Wenn wir berücksichtigen, dass die Jünger zu diesem Zeitpunkt noch für das echte Judentum standen (und nicht für die Gemeinde aus Juden und Heiden), dann können wir das ganz gut einordnen.

Norbert Lieth absolvierte seine theologische Ausbildung an der Bibelschule des Mitternachtsruf in Südamerika und war dort auf verschiedenen Missionsbasen tätig. Ein zentraler Punkt seines weltweiten Verkündigungsdienstes ist das prophetische Wort Gottes.
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