Der Sonderbeauftragte (Teil 4)

«Als es aber Gott, der mich von meiner Mutter Leib an abgesondert und durch seine Gnade berufen hat, wohlgefiel, seinen Sohn in mir zu offenbaren, damit ich ihn unter den Nationen verkündigte …» (Gal 1,15-16). – Über die besondere Stellung des Apostels Paulus.

Ein vernachlässigtes Thema

Das Evangelium des Reiches, das in den Evangelien verkündet wurde, kannte Gnade und Gesetz. Dieses Evangelium stellte noch Bedingungen. Petrus sagte zwar am Apostelkonzil: «wir glauben, durch die Gnade des Herrn Jesus in derselben Weise errettet zu werden wie auch jene» (Apg 15,11), jedoch ging es dabei um die Freiheit der Nationen vom jüdischen Gesetz, nicht um Israel. Das Evangelium der Gnade, das Paulus verkündigte (Apg 20,24), kennt demgegenüber nur Gnade, ohne alttestamentliches Gesetz oder Werke (Röm 6,14). Sein Evangelium ist ein göttliches Geschenk von oben. Ein Geschenk stellt keine Bedingungen (Röm 8,32; 1Kor 2,12). Darum nannte er es auch das «Evangelium der Herrlichkeit, des seligen Gottes, das mir anvertraut worden ist» (1Tim 1,11; in Verbindung mit den vorhergehenden Versen über das Gesetz). Paulus erhielt ja die Offenbarung, dass die Gemeinde als Neuschöpfung und Leib bereits vor Grundlegung der Welt erwählt worden war – das heisst, als es noch gar keine Werke gab. Allerdings betonte Paulus für bekehrte Christen sehr wohl die Wichtigkeit der Werke und der praktischen Heiligung. Darauf legte er sehr viel Wert.

Wir sind der ganzen Bibel verpflichtet, aber wir dürfen dabei eben nicht die besondere Haushalterschaft in den Paulusbriefen für die Gemeinde vernachlässigen. Wenn wir Gemeinde recht führen wollen, im Sinn des Heiligen Geistes, wenn wir uns selbst geistlich entwickeln wollen, dann sind die Paulusbriefe dafür von besonderem und äusserst notwendigem Wert. Johannes Ullmann sagte es einmal so:

«Wenn wir das Wort Gottes einmal mit einem gemischten Chor vergleichen wollen, dann hat Paulus nicht nur eine Stimme mit den Vielen in diesem Chor – nein, er hat eine eigene, für ihn speziell geschriebene Partitur gesungen. Der genialste Komponist aller Zeiten hat sie ihm zugedacht. Und deshalb singt er auch nie im Chor – er singt auch nicht im Quartett oder ein Duett – nein, er singt immer allein. Er singt viele Oktaven …»

Wegen seiner höchsten Offenbarungen wurde Paulus von Gott sehr gedemütigt, sodass ihn sogar ein Engel Satans schlagen durfte (2Kor 12,7). Dergleichen ist keinem anderen Apostel geschehen. Er schrieb selbst, dass er wegen dieser ausserordentlichen und ergänzenden Offenbarungen für den Leib Christi ausserordentliche Leiden durchmachte, ebenfalls als Ergänzung. Er trug die Malzeichen Jesu an seinem Leib (2Kor 12,7; Kol 1,24; Gal 6,17).

Paulus wurde missachtet, verachtet, verfolgt, nicht verstanden, missverstanden und gequält wie kein anderer (ausser Jesus). Alle in Asien hatten ihn verlassen (2Tim 1,15). Auch viele, mit denen er vormals zusammengearbeitet hatte, hatten sich abgewandt (2Tim 4,10-11). Durch die Kirchengeschichte hindurch verfolgte Satan das Ziel, die Briefe des Paulus zu verdunkeln, weil sie am meisten Licht bringen. Es bestand nie die Gefahr, die Briefe des Paulus zu hoch zu halten, aber es bestand immer die Gefahr, die anderen Briefe über die seinen zu stellen. 

Satan versucht auf zweierlei Art und Weise, die Briefe der paulinischen Lehre zu unterdrücken: Entweder direkt und brutal, durch grosse Anfechtungen und Anfeindungen bis hin aus den eigenen Reihen. Oder fromm getarnt, mit dem Vorwurf, man würde stark übertreiben. So klingt der Begriff «übertriebene Schriftteilung» zwar sehr fromm, ist aber in Wirklichkeit ein Wegziehen von den tiefen weiterführenden Wahrheiten, die Gott uns gegeben hat. Diese vermeintlich fromme Ermahnung kann durchaus auch anders gedeutet werden: «Nimm es nicht zu genau mit der Heiligen Schrift; man darf es nicht übertreiben, so wichtig ist das doch nicht, begnüge dich mit dem, was du weisst, und forsche nicht tiefer. Bleibe bei den Evangelien …» 

Wer in die ganze Tiefe der Heilsbotschaft Gottes für die Gemeinde eindringen will, der darf nicht nur hier und da Bibelverse von Paulus zitieren, sondern er muss dessen Briefe tiefgründig studieren und das beten, was Paulus ein Anliegen war, «damit der Gott unseres Herrn Jesus Christus, der Vater der Herrlichkeit, euch gebe den Geist der Weisheit und Offenbarung in der Erkenntnis seiner selbst, damit ihr, erleuchtet an den Augen eures Herzens, wisst, welches die Hoffnung seiner Berufung ist, welches der Reichtum der Herrlichkeit seines Erbes in den Heiligen und welches die überragende Grösse seiner Kraft an uns, den Glaubenden, nach der Wirksamkeit der Macht seiner Stärke» (Eph 1,17-19).

Michael Kotsch schreibt über den Wert der apostolischen Briefe im Allgemeinen: «In gewisser Weise haben die Texte der Apostel für die neutestamentliche Gemeinde sogar eine noch grössere Relevanz als die Evangelien, weil sie konkret in ihre Heilszeit und Alltagssituation hineinsprechen. Viele Details über das Leben des Christen und das Verhalten in der Gemeinde finden sich eben erst in den Briefen des Paulus und nicht in den Reden Jesu. Beide dürfen aber nicht als Gegensatz verstanden werden, sondern als von Gott gewollte Ergänzung» (Zeitschrift KfG Gemeindegründung, 1/18, 34 Jahrgang, Nr. 133, S. 23).

Der Theologe Erich Sauer schreibt über Paulus: «Von besonderer Bedeutung für die Berufung der Gemeinde war Paulus. Er war – kirchengeschichtlich gesehen – bei aller Wertschätzung der anderen, ‹der Erste nach dem Einen›. Jesus war der Eine, der Grundlegende, Unvergleichliche, Unübertreffbare. Paulus war der Erste. Der Herold, der Hauptbahnbrecher des Evangeliums in den weiten der Völkerwelt, der ‹erste› Hervorragende im grossen, weiten Völkerraum.»

Auf soundwords.de («gesunde Worte») wird Clifford Henry Brown zur «Lehre des Paulus» zitiert. Er berichtet: «Dies erinnert mich daran, wie ich als Junge zur Sonntagschule ging und dort bei der International Sunday School lernte: sechs Monate im Alten Testament – diese wunderbaren Geschichten von Joseph in Ägypten und David und dem Riesen usw. – und sechs Monate im Neuen Testament. Wir lernten die kostbare Geschichte von dem Leben unseres gesegneten Herrn. Es war wertvoll und ich danke Gott für diese Dinge. […] Aber der Punkt ist dieser: Wir haben nie die Briefe des Paulus behandelt bis auf einige Verse, die aus ihrem Kontext gerissen und moralisch angewendet wurden. Wir hatten nicht die leiseste Ahnung über die grosse Bedeutung des Dienstes, der dem Paulus anvertraut war. Paulus wurde vernachlässigt. […] Gott gab ihm diesen besonderen Dienst, und wehe dem, der Paulus vernachlässigt. Er wird in seinem geistlichen Leben abmagern; er wird keine Gemeinschaft mit den Gedanken Christi haben.»

Und Heinz Schumacher bemerkt: «Immer wieder wird der Fehler gemacht, die Botschaft des irdischen Jesus über die Lehre des Paulus zu stellen. Es klingt so fromm und einleuchtend, wenn man sagt: ‹Ich halte mich lieber an Jesus selbst als an Paulus und die anderen Apostel.› Also bleibt man bei den vier Evangelien stehen und nimmt vielleicht noch Offb. 2-3 hinzu. Dem ist entgegenzuhalten: Redet nicht der erhöhte Herr durch Paulus? Hat Jesus ihn nicht zum ‹Lehrer der Nationen› berufen (1Tim. 2,7)? Was Jesus auf Erden noch nicht sagen konnte (weil die Zeit noch nicht reif war), eben das offenbarte Er als der erhöhte Herr in den Briefen, besonders des Paulus! So ist die Botschaft der Paulusbriefe nicht nur ebenso wichtig wie die der vier Evangelien, sondern noch wichtiger, so wie ein Lehrbuch für Fortgeschrittene (in Latein oder Englisch, Physik oder Chemie) mehr bietet als ein Lehrbuch für Anfänger. Jesus hat den Paulus zu dem besonderen Zweck berufen, Sein Evangelium in die Nationenwelt zu tragen (Apg. 22,21; 26,17-20), ja, Er machte ihn […] zum Vollender des Wortes Gottes und zum Offenbarer göttlicher Geheimnisse, die Gott zuvor unter Verschluss gehalten hatte. Wer nun meint, dies sei eine Geringschätzung der früheren biblischen Offenbarung, der hat die Sache gründlich missverstanden. Wenn wir einen medizinischen Vortrag über unser Gehirn oder unsere Augen hören, werden wir dem Redner ja vernünftigerweise nicht den Vorwurf machen, er missachte unsere Füsse oder Knie. Alles ist an seinem Platz wichtig, so auch in der biblischen Offenbarung, es seien die Mosebücher oder Königebücher, Hiob, Psalmen, Sprüche, Propheten, die vier Evangelien oder die Briefe. Und nur auf dem Hintergrund der gesamten Schriftoffenbarung kann man Paulus recht verstehen. Er wäre der Letzte, der sagen würde: ‹Lest nur noch meine Briefe!› (vgl. 1Kor. 3,21-23). Doch es gibt eben Höhepunkte, die das andere überragen: unser Kopf die Hände und Füsse und so auch die Paulusbriefe die früheren Briefe» (Leben und Lehre des Apostels Paulus, S. 497-480).

Es geht keineswegs darum, die anderen Apostel in den Schatten zu stellen, aber es ist wichtig, dass wir bereit sind, ein vernachlässigtes Thema aus dem Schatten herauszuholen und so zu beleuchten, wie es die Bibel tut.

Norbert Lieth absolvierte seine theologische Ausbildung an der Bibelschule des Mitternachtsruf in Südamerika und war dort auf verschiedenen Missionsbasen tätig. Ein zentraler Punkt seines weltweiten Verkündigungsdienstes ist das prophetische Wort Gottes.
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