Der Absolutheitsanspruch macht die römisch-katholische Kirche prinzipiell nicht korrigierbar

Ein Gespräch mit dem Bibellehrer und Kirchenhistoriker Michael Kotsch über den Ausschliesslichkeitsanspruch der römisch-katholischen Kirche, die aktuellen Einheitsbestrebungen und die wahre Gemeinde vor der Reformation. Das Interview führte René Malgo.

500 Jahre nach der Reformation existieren unzählige protestantische Denominationen und Meinungen. Ist das Prinzip «Allein die Schrift» etwa hinfällig geworden, wie es die römisch-katholische Kirche behauptet?

Diese Frage umfasst zwei Teilaspekte: Zum einen ist die Einheit der römisch-katholischen Kirche vor allem organisatorisch und äusserlich. Spaltungen und verschiedene Meinungen gab es schon in der frühesten Christenheit. In der mittelalterlichen Kirche wurden abweichende Meinungen einfach mit Gewalt unterdrückt; da kann man kaum von einer geistlichen Einheit sprechen. Zum anderen ist Einheit in der Bibel keine organisatorische, sondern vor allem eine geistliche Grösse. Diese Einheit kann auch trotz verschiedener Konfessionen und Meinungen da sein. Der Apostel Paulus betont einerseits, dass es Lehrfragen gibt, von denen niemand abweichen darf; andererseits schreibt er aber auch davon, dass einige die Feiertage so oder so halten oder eben nicht, dass die einen dies oder das essen oder nicht und dass jeder seiner Meinung gewiss sein sollte. Das sah man auch in der Reformation so. Es gibt offensichtlich Dinge, die unterschiedlich gesehen werden können, weil Gott sie nicht im Detail festgelegt hat.

Unter bibeltreuen Protestanten gibt es in den grundlegenden Fragen des Heils und der Lehre eine weitgehende Übereinstimmung, aber in Detailfragen, die nicht eindeutig definiert sind, bestehen unterschiedliche Meinungen, ohne die grundlegende Verbundenheit zu zerstören.

Katholische Apologeten behaupten, die Worte «Glauben allein» kämen in der Bibel nur in Jakobus 2,24 vor, und dort heisst es: «So seht ihr nun, dass der Mensch durch Werke gerecht wird, nicht durch Glauben allein.» Was sagen Sie dazu?

Es geht nicht um bestimmte Begriffe, sondern um eine zusammenhängende Theologie, die auf bestimmte Formulierungen achtet und die biblische Botschaft in verständliche Worte fasst. Martin Luther kam es nicht auf genau diesen Wortlaut an, sondern auf die Tatsache, dass dieses Prinzip in der Heiligen Schrift gelehrt wird. Die Lehre der Erlösung durch Glauben allein finden wir eindeutig im Römerbrief, im Galaterbrief, überhaupt in den meisten apostolischen Briefen, auch im Jakobusbrief (gerade in Jakobus 2,23 wird deutlich gemacht, dass Abraham aus Glauben und nicht aufgrund von Werken «Freund Gottes» genannt wurde). Gottes Wort macht immer wieder deutlich, dass Menschen nur aufgrund des Glaubens an Jesus Christus gerettet werden, nicht aufgrund ihrer Werke (vgl. Eph 2,1–10). Aufgrund seiner Werke kann kein Mensch von Gott akzeptiert werden (vgl. Röm 3,23f.). Der durch Gnade errettete Mensch wird allerdings in der Folge gute Werke tun.

Was ist der Kernpunkt, der es für uns unmöglich macht, auf die Einheitsbestrebungen der römisch-katholischen Kirche einzugehen?

Da gibt es gleich mehrere Punkte. Ganz entscheidend ist da beispielsweise der Ausschliesslichkeitsanspruch der römisch-katholischen Kirche. Von ihrem Wesen und Selbstverständnis her ist sie gar nicht in der Lage und auch nicht willens, prinzipielle Veränderungen oder Korrekturen vorzunehmen, weil sie davon ausgeht, dass alle ihre Dogmen direkt vom Heiligen Geist inspiriert sind. Aus römisch-katholischer Sicht ist Einheit nur dann möglich, wenn sich alle auf die katholische Perspektive einigen.

Davon abgesehen sind die katholische und die evangelische Theologie völlig unterschiedlich. Für die römisch-katholische Kirche ist das katholische Lehramt bestimmend. Papst und Bischöfe entscheiden, was zur Bibel gehört und wie das Wort Gottes «richtig» verstanden wird. Nach katholischer Lesart erhält die Bibel erst durch die Päpste ihre geistliche Autorität. Im römisch-katholischen Verständnis führt Gott die Gemeinde bzw. Kirche, indem der Heilige Geist ihre Führer in alle Wahrheit leitet. Protestanten jedoch sind überzeugt, dass sich auch die Leitungspersonen der Gemeinde an den Aussagen der Bibel messen lassen müssen. Gottes Wort allein ist Massstab für Wahrheit und Lüge, soweit es Stellung zu einer Frage bezieht. Die römisch-katholische Kirche dagegen kennt zusätzliche Offenbarungen, die sie für irrtumslos hält. Das ist problematisch. Der Absolutheitsanspruch macht die römisch-katholische Kirche prinzipiell nicht korrigierbar. Für Protestanten besitzt aber nur die Schrift diese unkorrigierbare Zuverlässigkeit.

In den ökumenischen Einheitsbestrebungen sind die anderen Gruppen überdies immer nur Juniorpartner, weil die römisch-katholische Kirche aufgrund ihrer schieren Grösse viel mehr Macht und Gewicht hat. Es ist stets der katholische Partner, der in ökumenischen Dialogen den Ton angibt. Das sehen wir beispielsweise in der «Gemeinsame[n] Erklärung zur Rechtfertigungslehre» zwischen evangelischer und katholischer Kirche aus dem Jahr 1999; oder auch an dem beliebten katholischen Konferenzredner Johannes Hartl aus Augsburg, der in seinen Vorträgen zwar bestimmte Formen und Floskeln evangelikaler Frömmigkeit einfliessen lässt, ansonsten aber jede einzelne katholische Lehre als absolut wahr verteidigt. Nach dem römisch-katholischen Selbstverständnis werden die Unterschiede letztendlich nur dann überwunden, wenn alle zur römischen Dogmatik «zurückkehren».

Wenn überhaupt, unter welchen Bedingungen wäre ein Dialog mit der römisch-katholischen Kirche möglich?

Ein Dialog ist schon möglich. Das haben Protestanten immer wieder probiert. Auch Luther hat es versucht. Seine Haltung war: «Ihr müsst mich aufgrund der Heiligen Schrift überzeugen.» Aber einem solchen Gespräch gegenüber verweigert sich die römisch-katholische Kirche beständig: Sie zieht die Bibel nur heran, wenn es ihre Dogmatik zu unterstreichen scheint. Wenn es aber zum Beispiel um die Rolle Marias, um die Irrtumslosigkeit des Papstes oder das Fegefeuer geht, berufen sie sich für ihre Lehren auf die Führung durch den Heiligen Geist und nicht auf die Schrift. Echter Dialog ist aber nur möglich, wenn beide Partner die Heilige Schrift als alleinige Grundlage akzeptieren. Nur Gottes Wort kann die gemeinsame Basis für alle Glaubensfragen sein.

Wo war in der Geschichte die wahre Kirche bzw. Gemeinde, bevor in der Reformation die Errettung allein durch Gnade, Glaube und Christus entdeckt wurde?

Sie war schon immer da, in oder neben der katholischen Kirche. Die römisch-katholische Sichtweise, wonach ihre Konfession eine Kontinuität bilde vom Neuen Testament bis heute, ist lediglich eine Wunschvorstellung. Schon sehr früh gab es Streit und Trennungen. Die orthodoxe, koptische, nestorianische oder aramäische Kirche sind auch alte Kirchen, die sich weitgehend unabhängig von der römisch-katholischen Kirche entwickelt haben. Ausserdem waren innerhalb der katholischen Kirche immer Leute, die Gott nachgefolgt sind. Zeitweilig wurden sie toleriert, dann wieder verfolgt und ausgestossen. Hundertfünfzig Jahre vor der Reformation beispielsweise lebte John Wycliff als bekehrter Gläubiger im äusseren Rahmen der katholischen Kirche. In vielen Punkten vertrat Wycliff die Sichtweise der späteren Reformatoren. Trotz seiner Kritik wurde er zeit seines Lebens aus politischen Gründen in der katholischen Kirche geduldet. Genauso gibt es heute in der römisch-katholischen Kirche Menschen, die im Grunde genommen «biblisch-protestantisch» glauben und gewisse römische Dogmen gar nicht kennen oder nicht vertreten, trotzdem aber unter dem Dach der Kirche bleiben.

Ein anderes Beispiel aus der vorreformatorischen Kirchengeschichte sind die Waldenser. Ihr Anführer Petrus Valdes erkannte bereits im 12. Jahrhundert die Irrlehren der römisch-katholischen Kirche und versuchte sie zu korrigieren. Hunderte Jahre vor der Reformation hat er eine «protestantische» Theologie vertreten und wurde dafür verfolgt.

Die wahre Gemeinde Jesu gab es schon immer; aber organisatorisch war sie einfach nicht so stark vertreten. Manchmal blieben Gläubige unbeachtet, manchmal waren sie akzeptiert als unbequeme Teilwahrheit der katholischen Gesamtheit und manchmal wurden sie verfolgt.

Was sagen Sie zu den aktuellen Einheitsbestrebungen zwischen vielen Evangelikalen und der römisch-katholischen Kirche?

Weil im evangelikalen Bereich die Hochschätzung der Lehre zurückgegangen ist, lassen sich viele Evangelikale auf die Charme-Offensive der römisch-katholischen Kirche ein. In Gesprächen und Vorträgen überhören sie gerne den katholischen Anteil, erfreuen sich aber an den frommen Aussagen zu Ethik und Glaubensleben. Früher hat die römisch-katholische Kirche zumeist mit Gewalt und Druck auf die Protestanten reagiert. Heute tut sie es mit Charme und lädt freundlich zur Zusammenarbeit ein. Aber sie verschleiert, unter welchen Bedingungen diese Annäherung stattfinden soll. Unter vielen Evangelikalen findet zwischenzeitlich tatsächlich eine konfessionelle Annäherung statt, die von der römisch-katholischen Kirche begrüsst, von vielen Gläubigen aber viel zu wenig beachtet noch klar beurteilt wird. Man versucht, sich auf einen Minimalkonsens zu einigen und lässt wichtige Aspekte des Glaubens einfach unter den Tisch fallen.

Zweifellos gibt es Punkte, wo Protestanten mit Katholiken zusammenarbeiten können: Wenn es zum Beispiel um deutlich umrissene ethische und politische Ziele geht. Im Protest gegen Abtreibungen oder gegen die sukzessive Auflösung der Ehe können Katholiken und Protestanten gemeinsam Position beziehen. Gleichzeitig aber muss allen Beteiligten klar sein, dass sich dieses Zusammengehen nur auf diese irdisch-politische Situation bezieht und nicht auf andere theologische Fragen.

Im Bereich der Geschlechterdiskussion gibt es beispielsweise Anhänger der Evolutionstheorie oder auch Feministinnen, die die Gender-Ideologie aufs Schärfste verurteilen. In dieser Hinsicht sind wir natürlich mit ihnen einig; gewiss aber nicht in der Frage der Evolution oder der Stellung der Frau. Und so gibt es auch in bestimmten ethischen Fragen grosse Einigkeit zwischen der römisch-katholischen Kirche und Protestanten. Aber bei wichtigen theologischen Fragen besteht diese Einheit nicht, das sollte klar deutlich gemacht werden, damit keine Illusionen aufkommen.

Wäre es auch möglich, dass sich die Einheitsbestrebungen in eine biblische Richtung entwickeln?

Das wird wahrscheinlich nie möglich sein. Wenn wir die heutigen Entwicklungen endzeitlich deuten, ist die römisch-katholische Kirche auf dem besten Weg zu einer Welteinheitsreligion. Da wird zwischenzeitlich nicht nur die Nähe zu Evangelischen und Evangelikalen gesucht, sondern auch zu den Vertretern anderer Religionen. Währenddessen haben viele Protestanten ihre Wurzeln verlassen und streben nun ebenfalls zu dieser Welteinheitsreligion, in der alle einfach nur nett zueinander sind. Von manchen Protestanten hört man heute sogar, dass ein Muslim, wenn er «Jesus liebt», ein Bruder sein könnte, ganz unabhängig davon, dass er Ihn lediglich als islamischen Prophet liebt. Das würde ich als eine endzeitliche Entwicklung deuten; und da ist der Dialog zwischen Evangelikale und Katholiken nur ein Teil des Ganzen.

Angesichts der Einheitsbestrebungen zwischen römisch-katholischer Kirche und Protestanten, welchen Rat würden Sie Gläubigen da mit auf den Weg geben?

Mein erster Tipp: Bibel, Bibel, Bibel. Protestanten müssen sich neu dessen bewusst werden, wo die Grundlage ist: Jesus Christus begegnet uns in Seinem Wort. Wenn Protestanten diese Basis verlassen, werden sie nicht bestehen können, sondern früher oder später in den Schoss der römisch-katholischen Kirche zurückkehren. Bei gemeinsamen Veranstaltungen der Konfessionen geht es meistens um das gute Bauchgefühl. Die Unterschiede fallen dann schnell unter den Tisch. Dabei sollten wir uns auf die Bibel zurückbesinnen, nicht als Totschlagargument, sondern in dem Sinne, dass wir täglich mit ihr umgehen und uns von ihr prägen lassen. Allein die Bibel kann in einer Zeit postmoderner Religiosität zuverlässige Orientierung geben.

Wichtig ist es allerdings auch, dass wir Evangelikale ein realistisches Bild von der römisch-katholischen Kirche entwickeln. Viele haben ein übertriebenes Feindbild aufgebaut und stellen die römisch-katholische Kirche als abgrundtief böse dar, was so auch nicht stimmt. Und wenn dann jemand einen echten Katholiken trifft und bemerkt: «Ach, die sind ja viel anständiger und freundlicher als man mir gesagt hat», dann besteht die Gefahr, dass er schlussfolgert: «Ja, dann muss ihre Theologie doch auch gut sein.» Hier müssen wir Protestanten deutlicher differenzieren. Die römisch-katholische Kirche und Evangelikale können moralisch vieles gemeinsam haben. Auf Grundlage christlicher Wahrhaftigkeit sollten wir mit einem unnüchternen und häufig verzerrten Feindbild aufräumen. Ärgerliche Tatsachen aber bleiben, beispielsweise die Intoleranz der katholischen Kirche, ihre Gewalt Andersdenkenden gegenüber, ihre religionsvermischenden Rituale und die unbiblische theologische Grundlage. So können wir evangelikalen Christen ehrlich und klar sagen, «Ich finde es gut, wie sich die römisch-katholische Kirche gegen Abtreibung einsetzt, aber dieser oder jener Punkt geht eindeutig gegen die Lehre Jesu.» Wenn man aber ein pauschales Feindbild pflegt, fällt dieses schnell in sich zusammen, sollte man einmal einem wirklich modernen, freundlichen Katholiken begegnen.

Das sind die zwei Tipps, die ich in diesem Zusammenhang geben möchte: Lassen Sie sich noch mehr von der Bibel prägen und entwickeln Sie von den Katholiken ein realistisches Bild, das sowohl das Positive im Blick hat (z.B. die katholische Alltagsfrömmigkeit) als auch das Negative (die Irrlehren).

Vielen Dank für das Gespräch.

Michael Kotsch hat an der FETA Basel studiert und ist seit 1995 Lehrer an der Bibelschule Brake. Er ist Autor mehrerer Bücher und Vorsitzender des Bibelbund e.V.
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