Müssen wir die Prophetie wirklich wörtlich verstehen? (Teil 6)

Die wörtliche Auslegung der biblischen Prophetie und die damit verbundene Lehre von der Entrückung vor der Trübsal ist oft starker Kritik ausgesetzt. Eine Darlegung und Stellungnahme.

Obwohl die syrische Schule in den ersten paar Jahrhunderten grossen Einfluss hatte, setzte sich schliesslich doch die alexandrinische Schule mit der Hilfe von Hieronymus und Augustinus durch, die die allegorische Herangehensweise an die biblische Prophetie befürworteten. Der liberale Historiker Henry Preserved Smith kam hinsichtlich Augustinus zu dem Schluss: «Es kann zu Recht gesagt werden, dass die Allegorie mit seiner Unterstützung triumphiert hat.» Dieser Einfluss ebnete den Weg für die dominierende Position der allegorischen Auslegung im Mittelalter, insbesondere im Bereich der biblischen Prophetie. Augustinus entwickelte übrigens eine doppelte Hermeneutik. Er tendierte dazu, die Bibel wörtlich auszulegen, aber die Eschatologie vergeistlichte oder allegorisierte er.

Die allegorische Auslegungsmethode dominierte das Mittelalter. Da Origenes lehrte, dass die geistliche Bedeutung eines Textes die tiefere oder realere ist, warum soll man sich dann noch mit der untergeordneteren wörtlichen Botschaft einer Stelle befassen, wenn man anders viel mehr über den geistlichen Bereich erfahren kann? Eine vorherrschende spätmittelalterliche Überzeugung war, dass jeder Satz in der Schrif in Bezug auf Christus zu verstehen ist. Dieser irrige Auslegungsgrundsatz basierte auf einer falschen Auslegung und Anwendung von Lukas 24,44, wo Jesus sagte: «Das sind die Worte, die ich zu euch geredet habe, als ich noch bei euch war, dass alles erfüllt werden muss, was im Gesetz Moses und in den Propheten und den Psalmen von mir geschrieben steht.»

Diese Stelle sagt nicht, dass sich jedes Wort oder jeder Satz im Alten Testament auf Jesus, den Messias, beziehen muss, sondern dass Jesus genau die Person ist, wenn das Alte Testament über den Messias spricht. Das würde bedeuten, dass eine eindeutig historische Stelle wie 1. Chronik 26,18: «Am Parbar, gegen Westen: vier an der Strasse und zwei am Parbar» als Bezug zu Christus ausgelegt werden muss. Dieser Satz spricht aber nicht von Christus, aber mittels allegorischer Alchemie wurde er auf irgendeine christologische Weise erklärt. «In diesen neun Jahrhunderten finden wir sehr wenig ausser dem ‹Schimmer und Verfall› patristischer Auslegung», bemerkt Farrar. «Ein Grossteil der Gelehrsamkeit, die auch heute noch existiert, wurde der Exegese gewidmet, aber nicht ein Schreiber aus Hunderten zeigte eine echte Vorstellung von dem, was Exegese wirklich erfordert.»

Erst mit dem Anbruch der Reformation begannen Ausleger zur Vernunft der wörtlichen Auslegung zurückzukehren. Die Reformation hätte nicht stattfinden können, hätten die Reformatoren nicht darauf vertraut, dass sie wussten, was Gottes Wort sagt. «Die Tradition der syrischen Schule … wurde zur wesentlichen hermeneutischen Lehre der Reformatoren.»

Ramm weist darauf hin, dass es in Europa «eine hermeneutische Reformation gab, die der kirchlichen Reformation voranging.» So sehen wir wieder einmal in der Geschichte, dass aus der Auslegungsmethode die Exegese hervorgeht und schliesslich eine theologische Überzeugung. Luther und Calvin führten die Kirche im Allgemeinen zur wörtlichen Auslegung zurück. Hätten sie dies nicht getan, wäre der Protestantismus nie geboren worden und die Reformation hätte nie stattgefunden. Luther sagte: «Allein der wörtliche Sinn der Schrift ist der ganze Kern des Glaubens und der christlichen Theologie.» Calvin meinte: «Es ist die erste Aufgabe eines Auslegers, den Autor sagen zu lassen, was er sagt, statt ihm aufzuerlegen, was wir meinen, dass er sagen sollte.» Wie die meisten von uns hielten sich Luther und Calvin aber nicht immer an ihre eigene Theorie, aber sie und ähnlich gesinnte Reformatoren führten die hermeneutische Strömung in die richtige Richtung. Leider nahmen sie den Text nicht wörtlich, wenn der offensichtliche Sinn des Originals eindeutig aussagte, was gemeint war.

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