Müssen wir die Prophetie wirklich wörtlich verstehen? (Teil 5)

Die wörtliche Auslegung der biblischen Prophetie und die damit verbundene Lehre von der Entrückung vor der Trübsal ist oft starker Kritik ausgesetzt. Eine Darlegung und Stellungnahme.

Die altbekannte Binsenweisheit, dass Ideen Konsequenzen nach sich ziehen, gilt mit Sicherheit auch für die richtige Schriftauslegung, insbesondere für die biblische Prophetie. Das Buch der Sprüche spricht vom Ende einer Sache – mit anderen Worten, wohin führt der Standpunkt einer Person? Um diese Frage zu untersuchen, sollten wir uns anschauen, wohin Auslegungsmethoden in der Vergangenheit geführt haben. Wir glauben, wenn allegorische oder nicht wörtliche Ansätze weithin akzeptiert wären, würde die Gemeinde hermeneutisch gesehen ins frühe Mittelalter zurückfallen.

In den ersten 200 Jahren der Kirchengeschichte entstanden zwei konkurrierende Auslegungsschulen. Die syrische Schule von Antiochia trat für eine wörtliche und historische Auslegung ein, während eine Schule in Alexandria, Ägypten, eine allegorische oder vergeistlichte Hermeneutik befürwortete. Bernard Ramm sagt: «Die syrische Schule bekämpfte insbesondere Origenes als den Erfinder der allegorischen Methode und gab weiterhin der wörtlichen und historischen Auslegung den Vorrang.» Klemens von Alexandria (150–215) und Origenes (185–254) entwickelten im frühen 3. Jahrhundert die allegorische Herangehensweise an die Schriftauslegung.

«Die fundamentale Kritik an Origenes, die schon zu seinen Lebzeiten begann», bemerkt Joseph Trigg, «bestand darin, dass er eine allegorische Auslegung verwendete, um die Umdeutung der christlichen Lehre im Sinne einer platonischen Philosophie vordergründig zu rechtfertigen.» Origenes glaubte, «Sprüche 22,20 ermächtigt Ausleger, in jeder Bibelstelle eine dreifache Bedeutung zu suchen: eine fleischliche, psychische und geistliche». Da Origenes der Ansicht war, dass «die geistliche Bedeutung zu einer höheren Ordnung von Ideen gehört als die wörtliche», fühlte er sich von der vergeistlichten oder allegorischen Bedeutung des Textes angezogen. Ronald Diprose beschreibt die Auswirkungen einer allegorischen Auslegung wie folgt:

«Er begründete diese Sicht, indem er an das Prinzip der göttlichen Inspiration appellierte und bekräftigte, dass die von den biblischen Verfassern getroffenen Aussagen wörtlich genommen oftmals nicht wahr sind und viele Ereignisse, die als Geschichte präsentiert werden, von Natur aus unmöglich sind. Somit beschränken sich nur schlichte Gläubige auf die wörtliche Bedeutung des Textes.»

Die Anhänger der allegorischen Auslegung klingen wie ein Origenes des 20. Jahrhunderts, wenn sie solche Gründe für ihre Zurückweisung einer wörtlichen Auslegung der biblischen Prophetie anführen. So bezeichnet Hank Hanegraaff beispielsweise Tim LaHayes Sicht von Offenbarung 14,20 als eine «wörtliche Auslegungsmethode um jeden Preis». Der Text sagt, in der Schlacht von Harmageddon wird das Blut auf einer Strecke von über 300 Kilometern «bis an die Zäume der Pferde» reichen. Hanegraaff erklärt: «Apokalyptische Bilder in einem steifen wörtlichen Sinn auszulegen, führt unweigerlich in die Absurdität.» Warum glaubt er das? Er sagt: «Da man sich nur schwer vorstellen kann, dass das Blut der Feinde Christi einen buchstäblichen Fluss entstehen lassen könnte, der ‹1600 Stadien weit an die Zäume der Pferde› reicht, nimmt sich LaHaye ausserordentlich grosse wörtliche Freiheiten heraus.» Eine Seite später sagt Hanegraaff: «Bildliche Sprache verlangt von den Lesern, dass sie ihre Vorstellungskraft benutzen. … Solch fantasievolle Sprünge sind die Regel, nicht die Ausnahme.»

Hanegraaff stellt sich vor, das Blut in dieser Stelle sei auch ein Symbol für das «Blut, das aus Immanuels Adern floss», statt nur aus denen der Feinde Gottes, die dieses Gericht trifft. Während seine Vorstellungskraft weiter spekuliert, erfahren wir, dass «die Zahl 1600 voller Bedeutung ist». Er zitiert den präteristischen Kommentator David Chilton, der erklärt, «dass die Zahl 1600 auf besondere Weise Palästina hervorhebt. Vier im Quadrat symbolisiert das Land und zehn im Quadrat steht sinnbildlich für die Grösse des Landes». Woher weiss er, dass sich vier im Quadrat oder 1600 darauf bezieht? Hier wird klar eine Bedeutung in den Text hineingelegt. Wo ist der Beweis, dass seine Erklärung von 1600 die Bedeutung ist? Warum könnte es nicht ein Vielfaches von acht sein statt von vier und zehn? Und woher weiss Hanegraaff, dass das nicht buchstäblich passieren wird? Vertreter der wörtlichen Auslegung glauben, dass es so kommen wird, weil der Text genau das sagt.

Für die Ausleger der syrischen Schule von Antiochia ist ihre Behauptung entscheidend, dass «das Wörtliche offensichtlich-wörtlich und bildlich-wörtlich war». Damit meinten sie, dass «ein offensichtlich-wörtlicher Satz ein direkter Prosasatz ohne enthaltene Redewendung ist. ‹Das Auge des Herrn achtet auf die, welche ihn fürchten› ist hingegen ein bildlich-wörtlicher Satz». Ein derartiger Ansatz hatte eine enorme Wirkung auf die biblische Prophetie, und der liberale Kommentator R. H. Charles bemerkt: «Die Alexandriner, die unter dem Einfluss des Hellenismus und der traditionell allegorischen Auslegungsschule standen, die sich mit Philon zuspitzte, lehnten den wörtlichen Sinn der Apokalypse ab und verbanden mit ihr eine ausschliesslich geistliche Bedeutung.»

Hanegraaffs Abwertung der prophetischen Bedeutung des heutigen Staates Israel hat seine Wurzeln auch bei Origenes und einer allegorischen Hermeneutik. Diprose bemerkt Folgendes:

«Eine verächtliche Haltung gegenüber Israel war zur Zeit von Origenes zur Regel geworden. Das neue Element in seiner eigenen Sicht von Israel ist, dass es ‹keine Erhabenheit [der Gedanken] aufweist›. Daraus ergibt sich, dass der Ausleger stets eine tiefere oder höhere Bedeutung in den Prophezeiungen voraussetzen muss, die Judäa, Jerusalem, Israel, Juda und Jakob betreffen, die seiner Meinung nach ‹nicht in einem ‚fleischlichen‘ Sinne von uns verstanden werden sollten›. Origenes’ Verständnis zufolge war die einzig positive Funktion des physischen Israels, dass es als ein Typus des geistlichen Israels diente. Die Verheissungen wurden nicht dem physischen Israel gegeben, weil es ihrer unwürdig war und sie nicht verstehen konnte. Auf diese Weise enterbt Origenes das physische Israel.»

Hanegraaff behandelt Israel auf dieselbe Weise wie Origenes. In seinem Eschatologiemodell enterbt Hanegraaff das physische Israel und ersetzt es durch das, was er regelmässig das «geistliche Israel» oder die Gemeinde nennt. «Origenes vergleicht Israel mit einer geschiedenen Ehefrau, an der etwas Unschickliches gefunden wurde», bemerkt Diprose. Origenes sagte: «Ein Zeichen dafür, dass sie den Scheidebrief empfangen hat, ist, dass Jerusalem zusammen mit dem, was sie das Heiligtum nennen, zerstört wurde.» Hanegraaff vertritt eine ähnliche Sicht, wenn er Israel «als unersättliche Prostituierte» bezeichnet, während die Gemeinde «die gereinigte Braut» ist. Trotz aller Beweise in seinem Buch aus historischer Sicht sagt Hanegraaff, er habe sich «nie für die Substitutionstheologie ausgesprochen». Norman Geisler liefert eine vernünftigere Einschätzung, wenn er sagt: «Ideen haben Konsequenzen, und die typologisch-allegorische Idee hat schwerwiegende Konsequenzen in der Kirchengeschichte nach sich gezogen. Das Abstreiten einer wörtlichen Erfüllung der Verheissungen Gottes an Israel hat zum Antisemitismus geführt.» Geisler kommt zu dem Schluss, dass jene, «die das wörtliche Israel durch die geistliche Gemeinde ersetzen, die wörtlichen Verheissungen auf das Land und den Thron für ungültig erklären und so dem Liberalismus und Sektierertum Tür und Tor öffnen».

Zurück