Fromme Bibelkritik Teil 2

Es sind nicht nur die sogenannten «Liberalen», die das Wort Gottes attackieren. Oft verbirgt sich bibelkritisches Denken auch hinter frommen Floskeln, religiösen Traditionen und vermeintlicher Geistlichkeit. Eine Darlegung.

In der tiefen Sehnsucht nach einer ganz individuellen Führung Gottes geben sich viele Christen nicht mehr mit den allgemeinen und prinzipiellen Aussagen der Bibel zufrieden. Frei nach dem Motto: «Der Buchstabe tötet, aber der Geist macht lebendig» (2.Kor 3,6), wird eine blosse Bibel-Frömmigkeit sogar zugunsten einer vorgeblich direkten Kommunikation mit Gott scharf kritisiert. Sowohl für die alltäglichen Entscheidungen als auch für die grossen Lebensfragen hofft man auf direkte Anweisungen aus dem Himmel. Die Aufforderung zum verantwortlichen Handeln und die deutlichen biblischen Aussagen zur Partner- oder Berufswahl werden weitgehend ignoriert.

Manchmal steht hinter dieser Suche nach göttlicher Gewissheit echte, tiefe Frömmigkeit. Weit häufiger verbirgt diese Konzeption aber eine geistliche Verunsicherung, eine Scheu vor persönlicher Verantwortung oder eine heilsgeschichtliche Überschätzung der eigenen Lebenssituation. Zur frommen Bibelkritik wird die Suche nach individueller Führung, wenn äussere Zeichen und innere Stimmen an die Stelle von Gottes Wort treten. Imm9er häufiger bauen evangelikale Christen auf spekulative Prophetien, auf vorgebliche Bestätigungen durch günstige Umstände oder auf zweifelhafte Berufungen; selbst dann, wenn diese in eindeutigem Widerspruch zu klaren biblischen Aussagen stehen. Frauen fungieren mit Überzeugung als Älteste, auch wenn ihnen die Bibel das untersagt (1.Tim 2,12). Ehepartner trennen sich voneinander, weil sie sich so geführt fühlen und gehen dann bedenkenlos neue Verbindungen ein, auch wenn Gott Scheidung und Wiederheirat prinzipiell untersagt (Mk 10,6ff.). Wieder andere Christen erklären alle sympathischen Leute pauschal für gerettet, weil sie sich so geführt fühlen, auch wenn Gott selbst deutlich anderslautende Bedingungen zur Erlösung nennt (Röm 3,21–26).

Eine Form frommer Bibelkritik besteht also darin, deutliche Aussagen der Heiligen Schrift gegen private Offenbarungen auszuspielen, die man vorgeblich von Gott bekommen haben will. Regelmässig entstehen dadurch unüberbrückbare Widersprüche zwischen dem autoritativen Reden Gottes und inneren Stimmen, deren eigentlicher Ursprung nicht eindeutig verifiziert werden kann. Entscheidungsgrundlage jedes Christen müssen aber immer die eindeutigen Aussagen des Wortes Gottes sein, die zu Recht einen Anspruch auf allgemeine Gültigkeit für alle Menschen erheben. Darüber hinausgehende, mutmassliche Führungen Gottes dürfen nicht im Gegensatz zu diesen prinzipiellen Anweisungen stehen. – In vielen Fällen verbergen sich hinter persönlichen Prophetien weit eher eigene Wünsche, Sehnsüchte und Ängste, Befürchtungen und Hoffnungen, die man gerne verwirklicht sehen möchte; notfalls auch im Gegensatz zu klaren biblischen Ansagen.

Die Macht der Systeme: «Weil wir wissen, dass Gott die Prädestination / die Willensfreiheit lehrt, müssen wir diese Bibelstelle anders verstehen.»

Gerade viele konservative Christen, die sich selbst für weitgehend bibeltreu halten, orientieren sich bei genauerem Hinsehen weit eher an einer bestimmten theologischen Konzeption als an dem Wort Gottes allein. Natürlich können theologische Entwürfe dabei helfen, die vielfältigen Aussagen der Bibel zu systematisieren und insgesamt besser zu verstehen. Hat man sich in bestimmten Fragen einmal einer theologischen Richtung angeschlossen, scheint einem plötzlich alles in der Bibel viel klarer. Mit einigen wenigen Grundaussagen kann man scheinbar alles korrekt interpretieren und verstehen. Vielfach wird dabei aber übersehen, dass auch das beste theologische System eben nicht die Bibel selbst abbildet, sondern ein menschliches Konstrukt ist. Ganz offensichtlich hat Gott kein Lehrbuch der Dogmatik geoffenbart; was Er ohne Probleme hätte machen können, aber offensichtlich nicht als nötig angesehen hat.

Die Orientierung an festen theologischen Systemen kann schnell zur Konzentration auf Nebensächlichkeiten führen, die sich zwar für ausufernde Diskussionen eignen, im konkreten Leben des Christen aber kaum etwas verändern.

Ferner besteht die reale Gefahr, dass andere Christen nur noch nach ihrer Übereinstimmung mit dem eigenen theologischen System in Gut und Böse oder bibeltreu und bibelkritisch eingeordnet werden. Deren gesamtes Leben oder deren berechtigt unterschiedliche Akzentsetzung beim Bibellesen wird entweder nicht berücksichtigt oder als nebensächlich abgetan, weil das eigene geistliche Konzept zum alles überlagernden Massstab geworden ist.

Systemorientierte Christen stehen in der Gefahr, die Bibel immer schon durch eine ganz bestimmte theologische Brille zu lesen. Schnell wird das Wort Gottes nur noch als Beleg der eigenen theologischen Konzeption wahrgenommen. In Wirklichkeit ist man längst zu einem Vertreter des Dispensationalismus, des Calvinismus, der mennonitischen oder charismatischen Lehre geworden. Stattdessen wäre es weit besser, einfacher Bibelleser zu bleiben, für den einiges immer unklar bleiben wird, weil es jenseits aller menschlichen Systematisierungsversuche steht (1.Kor 13,9). Eigene Logik und eigene Systeme dürfen nicht darüber bestimmen, was ein konkreter Bibelvers sagen darf und was nicht.

Wahrscheinlich müssen Christen damit leben lernen, dass mit menschlicher Logik und irdischer Erfahrung nicht jede biblische Aussage eindeutig katalogisierbar und systematisierbar ist (Hi 38). Manchmal begreifen Gläubige die Vielschichtigkeit der Mitteilungen Gottes vielleicht auch nicht oder vergessen, dass Gott sich auch das Recht vorbehält Seinen irdischen Kindern nicht alles mitzuteilen, was wissbar ist (Mt 24,36). Offensichtlich konzentriert sich die Bibel auf all das, was Christen zum Glauben und Leben verstehen müssen. Vieles, was darüber hinaus noch interessant wäre, wird dabei ausgelassen.

Eine Form frommer Bibelkritik besteht also darin, Gottes Wort und irgendein theologisches System auf dieselbe Stufe zu stellen, bewusst oder unbewusst. Letztlich sind eben auch die besten geistlichen Konzepte nur menschliche Konstrukte und keine von Gott geoffenbarte Wahrheit. Nie sollte die unmittelbare Aussage eines Bibelverses mit dem Hinweis auf ein theologisches System umgedeutet werden. Viel eher sollte man dann die Begrenztheit des eigenen Konzepts eingestehen, ohne dessen hilfreiche Funktion an anderen Stellen leugnen zu müssen. Kein Christ ist gezwungen, sich nur dieser oder jener theologischen Sichtweise anzuschliessen («entweder Calvinist oder Arminianer»), wenn er gut begründete Aussagen in der Bibel findet, die beide Aspekte zulassen.

Wissenschaftsverliebtheit: «Zwar wird dieses Verhalten in der Bibel verboten, aber angesichts der Erkenntnisse der modernen Pädagogik, Psychologie usw. müssen wir das heute anders beurteilen.»

Spätestens seit der Aufklärung betrachten immer mehr Menschen die Wissenschaft als Garant für objektives, sicheres Wissen. Auch gegenwärtig wird die Bibel in Zweifel gezogen, weil ihre Aussagen sich nicht immer mit den momentanen Erkenntnissen der Archäologie, Geschichte oder Biologie decken. Im Zweifelsfall vertraut der aufgeklärte Christ der Wissenschaft und versucht die biblischen Inhalte entsprechend anzupassen. Am Ende wird das Wort Gottes abhängig von der Sichtweise der jeweiligen Forschung.

Die körperliche Züchtigung von Kindern (Spr 13,24; Hebr 12,6f.) beispielsweise wird verworfen, weil die moderne Pädagogik die Überlegenheit gewaltfreier Erziehung erwiesen habe. Die in der Bibel formulierte Ablehnung der Homosexualität (Röm 1,26ff.) wird wegerklärt, indem man auf die gegenwärtigen Erkenntnisse der Psychologie und Medizin verweist. Die von Gott geforderte Unterordnung der Frau (Kol 3,18) wird mit einem Hinweis auf die längst akzeptierte Gleichberechtigung der Geschlechter relativiert. Besessenheit (Lk 8,26ff.) betrachtet man angesichts wissenschaftlicher Psychologie und Psychotherapie als Umschreibung, Fehldiagnose oder einen heute nicht mehr vorhandenen Sachverhalt. Auch wenn Theologen ihre diesbezüglichen Aussagen gewöhnlich vorsichtig formulieren, verfälschen sie die ursprüngliche Absicht des Wortes Gottes, statt sie dem Publikum verständlich zu machen.

Eine Form frommer Bibelkritik besteht also darin, gegenwärtigen Erkenntnissen der Wissenschaft mehr Vertrauen zu schenken als eindeutigen Aussagen der Heiligen Schrift. Dabei wird zumeist versucht, klare biblische Forderungen als symbolisch zu interpretieren, um die Spannung zur momentanen Wissenschaft zu entschärfen. Gelegentlich wird dann auch behauptet, dass sich hinter der Beschreibung der Bibel lediglich ein überzeitlich geltendes Prinzip verberge, das es zu beherzigen gelte. Das in diesem Zusammenhang genannte konkrete Verhalten aber sei lediglich als Beispiel aus der damaligen kulturellen Umgebung zu verstehen. Leichtfertig geben Christen auf diese Weise den umfassenden Wahrheitsanspruch der Bibel für eine kurzzeitige Übereinstimmung mit dem gerade akzeptierten Stand der Wissenschaft auf. Dabei vergessen sie, dass Wissenschaft erkenntnistheoretisch nie absolute Wahrheit formulieren kann, sondern wesensmässig immer auf der Suche ist nach einer neuen, vorgeblich noch zutreffenderen Sicht der Dinge. Allein die Geschichte der Wissenschaft zeigt, dass kaum eine Wahrheit der Psychologie, Pädagogik, Archäologie usw., insofern sie der Bibel grundsätzlich widersprach, längere Zeit allgemeinen Bestand hatte.

Der Dominoeffekt: «Wenn Du so etwas forderst, dann müsste man doch auch wieder die Sklaverei einführen oder die Kopfbedeckung der Frauen. Weil wir aus gutem Grund darauf verzichtet haben, sollten wir auch an dieser Sache nicht länger festhalten.»

Michael Kotsch hat an der FETA Basel studiert und ist seit 1995 Lehrer an der Bibelschule Brake. Er ist Autor mehrerer Bücher und Vorsitzender des Bibelbund e.V.
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