Warum legt jeder die Bibel so anders aus?

Zum Tausendjährigen Reich gibt es unter treuen Christen viele verschiedene Ansichten. Woran liegt das? Eine Erklärung.

Die Bibel ist eine fortlaufende, geschichtlich gewachsene Offenbarung. Deswegen ist die Erkenntnis bis zur Wiederkunft des Herrn auch zu jeder Zeit Stückwerk und nicht abgeschlossen (1.Kor 13,9). Durch die Kirchengeschichte hindurch standen alle Bereiche der biblischen Lehre praktisch einer bestimmten Reihenfolge nach in der Diskussion, sodass man dahinter durchaus einen gottgewollten Prozess annehmen kann. In den ersten Jahrhunderten finden wir die Bibliologie (Lehre der Inspiration und Bibel) im Zentrum (da man verunsichert war über die Festlegung des Kanons). Im 3. und 4. Jahrhundert waren es die Bereiche der Theologie und Christologie (es kam zur Diskussion über die menschliche und göttliche Natur Jesu), später die Ekklesiologie (Lehre der Gemeinde, Gestaltwerdung der katholischen Kirche). Und zur Zeit der Reformatoren stand die Soteriologie (Lehre vom Heil) im Brennpunkt mit der lutherschen Frage: Wie finde ich einen gnädigen Gott? In unserer Zeit scheint nun die Eschatologie (Lehre von den letzten Dingen) im Fokus zu stehen. 

Die Bibel wird verschieden interpretiert wegen der Begrenztheit des menschlichen Denkens, aber nicht, weil es der Schrift an Klarheit fehlt. Die Bibel ist Wahrheit, ihre Sprache hat den gottgewollten Sinn klarer Mitteilungen, und Gott meint, was Er sagt. Jesus hat selbst die kleinsten Teile der hebräischen Buchstaben als bedeutungstragende Elemente inspirierter Offenbarung betrachtet (Mt 5,18). Deswegen können wir die Offenbarung Gottes in ihrem einfachen, normalen sprachlichen Sinn und meistens buchstäblich verstehen. Natürlich müssen wir den besonderen Charakter der einzelnen Bibelbücher, ihre Zeit, ihren Kontext und ihre eigenen Sprachgewohnheiten verstehen lernen. 

Wir müssen uns bewusst sein (wie uns Psychologie und Hirnforschung lehren), dass Menschen in ihrem Denken und in ihrer Denkart verschieden angelegt sind. Wenn schon Mann und Frau sich im analytischen oder synthetischen Denken unterscheiden, muss es uns nicht wundern, dass auch die gelehrtesten Theologen trotz bester Kenntnisse in biblischen Sprachen und der gewissenhaftesten Anwendung exegetischer, hermeneutischer und theologischer Methoden zu verschiedenen Anschauungen kommen. Sprache ist eine sehr komplexe Angelegenheit (Pragmatik, Semantik, Syntax), und so können Menschen in Denkprozessen Sachverhalte verschieden deuten, einordnen oder zusammenstellen. Augenscheinlich will Gott, dass wir um das richtige geistliche Verständnis vor Ihm ringen, dass wir Sein Wort versuchen besser kennenzulernen. Nur jene, die sich wirklich ernsthaft auf die Suche nach Gott machen, werden Ihn auch finden. Eine wichtige Bemühung wird es sein müssen, dass man bei gewonnenen Erkenntnissen nicht unliebsame Fakten vorschnell ausblendet. Leider ist dies auch in der sündigen Natur des Menschen begründet (vgl. Jak 3,1-2).

Wenn wir Daniel 12,9-10 ernstnehmen, wo es heisst: «Die Worte sollen geheimgehalten und versiegelt sein bis zur Zeit des Endes. Viele werden geprüft und gereinigt und geläutert werden … die Verständigen aber werden es verstehen», können wir in biblischen Streitfragen nicht einfach sagen, man müsse zum Urchristentum oder zur Erkenntnis der Reformatoren zurückkehren. Zwar erleben wir zur Zeit eine Neubelebung konservativer reformatorischer Theologie, aber obwohl die Reformatoren zurück zur Schrift fanden, hatten sie bezüglich der biblischen Prophetie leider keine neuen Einsichten, sondern blendeten ganze biblische Bücher aus und manches schien ihnen auch wegen der schwärmerischen Bewegungen ihrer Zeit zweifelhaft. Auf ihrem steinigen Weg rangen sie sich zu einer buchstäblicheren Bibelinterpretation durch, da sie von der Klarheit der Schrift ausgingen und einer wahllosen, nicht kontrollierbaren Allegorisierung wehren wollten. Der Mann auf der Strasse wurde ermutigt, die Bibel selbst zu lesen und zu verstehen. Dennoch wandten sie die neuen Erkenntnisse noch nicht auf die Prophetie an. So wurde die Eschatologie eben gerade für die Endzeit das kontroverse Thema schlechthin.

Eberhard Hanisch, früherer Bibellehrer an der Mitternachtsruf-Bibelschule in Südamerika und langjähriger Leiter der Missionsstation und Internatsschule des Mitternachtsruf in Riberalta, Bolivien.
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