Ist Kopfbedeckung für Frauen in der Gemeinde Pflicht?

Unter «Perspektiven» wollen wir bibeltreue Christen mit unterschiedlichen Standpunkten zu verschiedenen, teils kontrovers diskutierten Fragen Stellung beziehen lassen. Wie Eisen Eisen schärft, so soll ein Bruder den anderen schärfen (Spr 27,17), auf dass wir Gläubigen alle gemeinsam «zu dem hin, der das Haupt ist, Christus», wachsen (Eph 4,15).

Ja
Paulus erklärt, dass die Gemeinde, obwohl sie ein himmlisches Volk ist, trotzdem der Schöpfungsordnung unterstellt ist (1.Kor 11,1–16). In der Gemeindezusammenkunft und im Alltagsleben ist die Stellung von Mann und Frau durch die Erlösung am Kreuz nicht aufgehoben worden. Im Zusammenhang mit Gebet und Weissagung (Reden zur Erbauung, Ermahnung und Tröstung; 1.Kor 14,3) soll die Stellung in der Schöpfung sogar durch besondere äussere Zeichen verdeutlicht werden: Bedeckung bzw. keine Bedeckung. Es geht nicht um die Frage, ob man verheiratet oder ledig ist. Es geht hier allein um die Stellung als Mann und Frau in der Schöpfung.

Dies ist keine Frage der zeitbedingten Kultur. Paulus schreibt hier gegen die damalige Kultur! Im Judentum trugen Männer beim Beten in der Synagoge einen Tallith (vgl. 2.Kor 3,15). Doch für die Gläubigen des Gemeindezeitalters ist’s genau anders: Männer sollen sich beim Beten und Predigen nicht bedecken. Damals war dieser Abschnitt eher für Männer schwierig, heute eher für Frauen. Die Zeiten ändern sich, aber nicht Gottes Wort.

Dies ist gerade «um der Engel willen» wichtig (1.Kor 11,10). Die Engelwelt beobachtet die Gemeinde (1.Kor 4,9; Eph 3,10; 1.Petr 1,12). In der Engelwelt begann die Katastrophe der Sünde dadurch, dass ein Engelfürst die Autorität Gottes über sich nicht akzeptieren wollte und so zum Satan wurde. Nun wollen Engel wissen: Wie steht es mit den erlösten Menschen? Anerkennen sie Autoritätsordnungen wie Gott sie vorgeschrieben hat? Engel können nicht die Gedanken der Erlösten lesen. Darum sind sie auf äussere Zeichen angewiesen.

Bei der Bedeckung der Frau handelt es sich nicht um eine Verhüllung des Kopfes, sondern um etwas, das auf dem Kopf liegt (das gr. Wort kata-kalypto heisst wörtlich «von oben herab-bedecken»). Die Übersetzung «verhüllen» ist nicht möglich, weil es parallel gebraucht wird mit «etwas auf dem Kopf haben» (1.Kor 11,4) sowie «eine Macht» (Autorität – ein Zeichen der Macht/Autorität, unter der die Frau steht) auf dem Kopf zu haben (V. 10).

Die Bedeckung ist nicht dasselbe wie das lange Haar. Wenn eine Frau sich nicht bedecken will beim Beten oder Weissagen, sollte sie eigentlich auch keine langen Haare tragen (V. 6). Das lange Haar ersetzt nicht die Bedeckung! Das lange Haar ist anstatt eines Schleiers gegeben (V. 16; gr. periboleion = das [um den Kopf] rund herum Geworfene). Das ist etwas ganz anderes als die Bedeckung! Der Schleier spricht von Hingabe und Treue. Als Rebekka Isaak zum ersten Mal sah, zog sie sich einen Schleier an, um damit symbolisch zu zeigen: Ich entziehe mich den Blicken aller anderen Männer. Ich bin geschaffen als Hilfe für Isaak (vgl. 1Mo 2,18). Die Bedeckung spricht von Unterordnung unter die Führung des Mannes und das lange Haar von Hingabe bzw. Treue, um zu ergänzen, auszufüllen und zu komplementieren.

Roger Liebi

Nein
Mehrere Erwägungen werden Licht auf dieses schwierige Problem werfen. Erstens sollten wir zwischen der Bedeutung des Textes und seiner Bedeutsamkeit unterscheiden. Die Bedeutung spricht davon, was der Text den Menschen der damaligen Kultur sagen wollte. Und die Bedeutsamkeit spricht davon, wie dieser Text auf die heutige kulturelle Situation angewandt werden kann. Hinsichtlich der Bedeutung gibt es keinerlei Zweifel. Der Text meint genau das, was er sagt. Wenn die Frauen in Korinth ihre Kopfbedeckung ablegten und in der Gemeinde beteten, dann entehrten sie ihr Haupt (ihren Ehemann; 1.Kor 11,3.7.9.11). In jenen Tagen galt die Kopfbedeckung als ein Symbol der Achtung, die eine Ehefrau ihrem Ehemann entgegenbrachte. In jenem kulturellen Kontext war es für eine Ehefrau eine Notwendigkeit, eine Kopfbedeckung zu tragen, während sie in der Gemeinde betete oder weissagte.

Zweitens gibt es einen Unterschied zwischen Gebot und Kultur. Die Gebote der Heiligen Schrift sind absolut verbindlich – die Kultur hingegen ist relativ. Hier einige Beispiele: Wenige sind der Ansicht, dass das Gebot Jesu an Seine Jünger, unterwegs kein zusätzliches Paar Sandalen mitzunehmen heute noch Gültigkeit hat. Die meisten Christen grüssen die Brüder heutzutage auch nicht mehr «mit heiligem Kuss» (1.Thess 5,26). Ausserdem sind sie nicht mehr der Ansicht, dass es während der öffentlichen Gebete erforderlich ist, «heilige Hände aufzuheben» (1.Tim 2,8). Hinter all diesen Geboten steht ein absoluter Grundsatz, aber die Praxis ist nicht absolut. Was Christen tun sollten, ist absolut verbindlich, aber wie es tun, ist kulturell gesehen relativ. Ein Beispiel: Christen sollten einander grüssen (das Was). Aber wie sie einander grüssen, das wird von der jeweiligen Kultur abhängig sein.

In einigen Kulturen wird es – wie im Neuen Testament – ein Kuss sein, und in anderen Kulturen eine Umarmung und in wieder anderen Kulturen ein Händedruck. Viele Bibelgelehrte sind der Ansicht, dass dieser Grundsatz auch für das Tragen einer Kopfbedeckung gilt. Es bedeutet, dass Frauen ihrem Ehemann gegenüber in allen Kulturen zu allen Zeiten Respekt erweisen sollten (das Was). Doch wie sie diesen Respekt zum Ausdruck bringen, mag unterschiedlich sein – nicht immer eine Kopfbedeckung. Es kann z.B. ein Ehering oder irgendein anderes kulturelles Symbol sein.

Norman L. Geisler, Thomas Howe

Roger Liebi studierte Musik, Sprachen der biblischen Welt (Griechisch, klassisches und modernes Hebräisch, Aramäisch, Akkadisch) und Theologie. Er ist Referent und Bibellehrer in verschiedenen Ländern. Als Bibelübersetzer hat er im Rahmen diverser Projekte mitgewirkt. Thomas Howe ist Professor der Bibel und biblischer Sprachen am Southern Evangelical Seminary und Direktor der Veritas Graduate School of Apologetics. Norman L. Geisler (1932–2019) war ein evangelikaler Theologe, bekannt für seine apologetische Arbeit. Er gründete zwei Theologische Seminare und schrieb über 90 Bücher.
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