Auf Einladung von Pnina Shor, der Chefkonservatorin der Qumranrollen, durfte ich vor Kurzem die streng abgeschirmten Labors der Israelischen Antikenbehörde besuchen. Nur fünf aus Russland stammenden Konservatorinnen ist die Arbeit an den fragilen Dokumenten erlaubt. In der Anfangsphase der Forschung wurden die Fragmente mit Tesafilm zusammengeklebt und zwischen Glasplatten gepresst. Das ist nach heutigem Kenntnisstand nicht vorteilhaft für die Fragmente. So werden die kleinen Schnipsel in mühevoller Arbeit gesäubert und so behandelt, dass sie die nächsten Jahrhunderte erhalten bleiben. Den Damen, die seit fast 20 Jahren diese Arbeit machen, kann man nur den höchsten Respekt für ihre Arbeit zollen. So bleiben auch die wertvollen Fragmente der Bibelhandschriften für die Zukunft erhalten.
Die Rollen aus Höhle 1 (zwei Jesajarollen, Kriegsrolle, Habakuk-Kommentar, Lobliederrolle, Gemeinderegel, Genesis-Apokryphon) sowie die Tempelrolle aus Höhle 11) wurden von der Hebräischen Universität bzw. dem Staat Israel angekauft und kurze Zeit später veröffentlicht. Sie werden heute in einem extra errichteten Museumsbau, dem Schrein des Buches in Jerusalem, ausgestellt. Der separate Bau des Israel-Museums liegt in Sichtweite der Knesset, dem Israelischen Parlament und ist einer der Publikumsmagneten. Der Museumsbau ist einem Tonkrugdeckel nachempfunden und gänzlich in Weiss gehalten. Diese Farbe soll symbolisch die Besitzer der Schriftrollen darstellen, die sich selbst «Söhne des Lichts» nannten. Gegenüber steht ein riesiger schwarzer Stein, der die «Söhne der Finsternis» symbolisiert. Das Ganze ist eine architektonische Umsetzung der Kriegsrolle, die vom endzeitlichen Kampf der Söhne des Lichts gegen die Söhne der Finsternis spricht.
Kompliziert ist die Rechtslage mit den Funden, die nach dem israelischen Unabhängigkeitskrieg 1948 gemacht wurden. Qumran, ebenso wie der nördliche Teil des Toten Meeres, befand sich nun im jordanisch besetzten Teil des Heiligen Landes. Damit gelangten die Funde an die Jordanische Antikenverwaltung, die das oben genannte internationale Schriftrollenteam zusammenstellte und die Funde im Rockefeller-Museum (nicht weit vom bekannten Gartengrab entfernt) bearbeiten liess. Erst 1967 fielen diese Fragmente durch den Sechs-Tage-Krieg in die Hände der Israelis.
Die Funde vom Toten Meer sind die wohl grösste archäologische Sensation unseres Jahrhunderts. Sie stellen die älteste uns erhaltene jüdische Literatur dar und erhellen die Zeit, in der Jesus lebte. So kann die Forschung heute viel genauer die Zeit rekonstruieren, in der Jesus Christus gelebt hat. Man muss erkennen, wie jüdisch die Wurzeln des christlichen Glaubens sind, aber auch, wie genau die biblischen Texte über all die Jahrhunderte überliefert worden sind. Geheiminformationen über Jesus, Paulus oder die Urchristen finden sich in keinem einzigen der Qumrantexte. Dennoch ist die theologische Bedeutung der Qumrantexte für das Verständnis des Neuen Testaments enorm.
Ein Beispiel: Man hat meist angenommen, der Messias sei im Frühjudentum nicht als «Sohn Gottes» bezeichnet worden, während das im Neuen Testament oft geschieht. Das sei heidnisch-griechischer Einfluss. Hier fordert die Entdeckung des Qumrantextes 4Q246 (Fragment 246 aus der 4. Qumranhöhle) ein Umdenken, denn der wichtigste Textabschnitt dieses aramäischen Kommentars zum Danielbuch von 150 vor (!) Chr. lautet: «Sohn Gottes wird er genannt werden, und Sohn des Höchsten wird man ihn heissen.» Diese Formulierung erinnert stark an die Worte des Engels an Maria: «Der wird gross sein und Sohn des Höchsten genannt werden … und er wird Sohn Gottes geheissen werden» (Lk 1,32–35). Daher urteilt Prof. Rainer Riesner zu Recht: «Das Qumran-Fragment 4Q246 zeigt, wie an einer wichtigen Stelle der lukanischen Geburtsgeschichte die Sprache nicht etwa heidnisch-griechisch, sondern palästinisch-jüdisch ist.» Man hat also sehr wohl schon spätestens im 2. Jh. v.Chr. die theologische Erkenntnis gehabt, dass der Messias der Sohn Gottes sein müsste, so wie es das Neue Testament dann von unserem Herrn Jesus bezeugt.
Ein zweites Beispiel: Auf dem Hintergrund der Qumrantexte sieht man, wie radikal und brisant Jesu Botschaft schon zur damaligen Zeit war. Wenn der Herr Jesus in der Bergpredigt auffordert, den Feind zu lieben (Mt 5,44), dann stand dies konträr zur Auffassung der Frommen von Qumran, die jährlich sogar einen Schwur ablegten, die «Söhne der Finsternis» zu hassen (Gemeinderegel). Und wenn der Herr Jesus verdeutlicht, dass der «Sabbat für den Menschen und nicht der Mensch für den Sabbat da sei» (Mk 2,27), dann zeigt das die grosse Kluft zu den Essenern, die noch nicht einmal am Sabbat ihre Notdurft verrichten durften. Ein Vergleich der Qumranrollen mit dem Neuen Testament zeigt, wie neu und befreiend die Botschaft Jesu von der rettenden Liebe Gottes für Seine Zeit war und auch heute noch ist.
Seit Beginn der Forschung wird leidenschaftlich diskutiert, wer in Qumran gelebt hat. Die Mehrzahl der Forscher sieht in Qumran eine Niederlassung der Essener, eine der jüdischen Religionsgruppen, die in den antiken Quellen von Philo, Josephus und Plinius beschrieben wird. Besonders durch das ZDF wurde in einer Terra-X-Sendung allerdings die These popularisiert, dass Qumran nur eine landwirtschaftliche Siedlung gewesen sei und die Schriftrollen aus den Bibliotheken von Jerusalem stammen würden. Die Texte und die Siedlung hätten demnach nichts mit den Essenern zu tun.
Doch die Funde zeigen ein ganz anderes Bild! Die Keramikfunde in Qumran und die Keramik aus den Höhlen sind identisch und die Höhlen 7–9 kann man nur erreichen, wenn man durch die Siedlung Qumran geht. Die Höhlen 4a, 4b und 5 liegen auf der Mergelterasse direkt gegenüber der Siedlung. Die Qumran-Bewohner müssen daher die Eigentümer der verborgenen Handschriften gewesen sein. Viele der Qumrantexte sind sehr kritisch gegenüber dem Tempelkult. Auffallend ist das Fehlen der pro-hasmonäischen Makkabäerbücher. Die Wahl des Ortes in der Wüste geht auf Jesaja 40,3 zurück, das zweimal in der Gemeinderegel zitiert wird: «In der Wüste bahnt den Weg des HERRN!» 1996 wurde eine beschriebene Tonscherbe entdeckt mit der Eigenbezeichnung jachad (= «Gemeinde»), ein Ausdruck, wie er aus den Qumrantexten bekannt ist. Im Qumrantext 4Q477 wird ein Mitglied des jachad von einem Aufseher getadelt. Die Gemeinderegel (1QS) bietet Regeln und einen Strafkatalog für das Zusammenleben einer Gemeinschaft. Die hohe Konzentration von Ritualbädern, die jedem Besucher als erstes ins Auge fallen, und viele vergrabene Depots mit Tierknochen, die nach der Tempelrolle als kultisch unrein galten, zeigen, dass die Bewohner ein ausgeprägtes Interesse an kultischer Reinheit hatten. All dies passt am besten zu dem, was wir über die Essener wissen.
68 n.Chr. wurde Qumran von den Römern zerstört, die Rollen kurz vorher von den Bewohnern vor den Römern in den Höhlen versteckt. So ist zu erklären, dass bei den Ausgrabungen in Qumran keine Schriftrollen gefunden wurden. Heute gibt es eine Vielzahl von alternativen Deutungsmodellen zur Frage, wer in Qumran lebte. So soll die Siedlung eine Schriftrollenmanufaktur mit Ledergerberei, eine Festung, Karawanserei, Zollstation, ein Warenlager, Landgut, eine industrielle Dattelplantage oder Produktionsstätte für Tonwaren bzw. für Balsam und Parfüm (so eben Terra-X) gewesen sein. Die Handschriften seien bei Ausbruch des jüdischen Kriegs aus Jerusalem in die Höhlen verbracht worden. In Qumran hätten nie Essener gelebt. Diese Deutungen wurden von der Fachwelt abgelehnt, da zum Beispiel die Mauern in der Siedlung mit 60 cm Breite zu schmal für eine Militäranlage sind. Es gibt auch keinerlei Spuren von Bewässerungsanlagen, die man bei einer intensiven «industriellen» landwirtschaftlichen Nutzung aber voraussetzen muss. Es konnte auch kein Tannin nachgewiesen werden, was man bei einer Ledergerberei erwarten müsste.
Durch die Untersuchung der Tinte von einem Fragment der Lobliederrolle (1QH) wurden die Alternativtheorien 2009 endgültig widerlegt. In der Antike musste die Tinte direkt vor dem Schreiben aus einem Tintenkuchen vermischt mit Wasser hergestellt werden. Die chemische Untersuchung der Spurenelemente ergab eine so hohe Konzentration von Brom, wie man es nur im Wasser um das Tote Meer herum findet. Die Lobliederrolle muss also in Qumran geschrieben worden sein. Zudem enthalten die Tonkrüge zum Abdichten Leinen, das mit Bitumen aus dem Toten Meer imprägniert wurden. Nicht alle Texte wurden aber in Qumran geschrieben. Die Handschriften, die aus der Zeit vor 100 v.Chr. datieren (wie z.B. die grosse Jesajarolle), müssen als «Masterkopien» bei der Gründung der Qumransiedlung mitgebracht worden sein. Fragmente wurden anscheinend doch auch in Qumran gefunden, wie mir Prof. James Charlesworth von der Universität Princeton bestätigte. Interviews, die er mit den in den 1950er-Jahren an den Ausgrabungen beteiligten Beduinen geführt hatte, haben ergeben, dass als Tagessold 1,– $ gezahlt wurde. Die in Qumran entdeckten Rollenfragmente hätten die Beduinen daher nicht bei der Grabungsleitung abgegeben, sondern selber für 20,– $ und mehr verkauft.
Die bisher beste Deutung für die Siedlung ist es daher, in Qumran ein Zentrum und in den Handschriften die Hinterlassenschaft der Essener zu sehen. So urteilen auch Prof. Rainer Riesner und vor allem Prof. Claus-Hunno Hunzinger, der einzige deutsche Forscher des Schriftrollenteams. Die neuen Theorien stellen lediglich Minderheitenmeinung in der wissenschaftlichen Debatte dar, auch wenn Sendungen wie Terra-X ein anderes Bild vermitteln.
Wer heute die Ruinen von Qumran am Toten Meer besichtigt, ist von den Ausgrabungen begeistert, denn die archäologische Stätte versetzt den Besucher direkt in die Zeit des Herrn Jesus zurück. Die «Steine beginnen zu schreien», und man kann das antike jüdische Leben in der Ruine nachempfinden, zum Beispiel beim Betrachten der rituellen Waschbecken, in denen sich die Essener täglich reinigen mussten. Die wertvollen Schriftrollen im Schrein des Buches werden jedes Jahr von Zigtausenden von Museumsbesuchern bewundert. Wer es nicht nach Israel schafft: 2018 ist eine Ausstellung der Original-Qumranfunde in einer besonderen Ausstellung in Frankfurt geplant. In meiner ausleihbaren Qumran- und Bibelausstellung können interessierte Gemeinden, die Bedeutung der Funde anhand von 1:1-Replikaten zeigen (www.bibelausstellung.de). Bei diesem archäologischen Sensationsfund werden wir eindrücklich an das Wort aus dem Propheten Jesaja (40,8) erinnert: «Das Gras verdorrt, die Blume verwelkt; aber das Wort unsres Gottes bleibt ewiglich.»