Der Bibelschatz aus dem Wüstenkloster (Teil 2)

Constantin von Tischendorf und die Entdeckung der ältesten Bibel der Welt.

Neben den Bibliotheken Europas waren es aber besonders die Klosterbibliotheken des Orients, die Tischendorf erforschen wollte. Im Orient ist die Bibel entstanden. Hier hoffte er besonders alte Textzeugen zu finden. So ging es mit dem Dampfer nach Ägypten. Neben den koptischen Klöstern in der libyschen Wüste und den Bibliotheken in Alexandria und Kairo wollte er unbedingt das Katharinenkloster im Sinai aufsuchen, denn es ist das älteste Kloster der Welt, das Kaiser Justinian um 550 n.Chr. errichten liess. Der Ruf der Klosterbibliothek war schon damals legendär. Nach zwei Wochen gefährlicher Wüstenreise erreichte der sächsische Bibelforscher im Mai 1844 das abgelegene Kloster im Süden des Sinai mit einer kleinen Kamelkarawane. Doch die Strapazen sollten sich lohnen! Er entdecke in der Klosterbibliothek 129 Blätter aus jener uralten Bibel, die heute als Codex Sinaiticus (= Buch vom Sinai) weltbekannt ist. 43 Blätter durfte Tischendorf als Geschenk von den Sinaimönchen mit nach Leipzig nehmen. Die anderen liess er zurück und bat darum, nach weiteren Blättern Ausschau zu halten. Der Rückweg ging über Suez zurück nach Kairo und dann weiter nach Jerusalem, Sichem, Beirut, Smyrna, Patmos, Konstantinopel und Athen. Überall besuchte er die Bibliotheken. Über Italien, Wien und München ging es dann Weihnachten 1844 zurück nach Lengenfeld und ein paar Tage später zu seiner Angelika, mit der er sich gleich verlobte und 1845 heiratete.

Bei seiner Rückkehr wurde er zum Professor an der Universität in Leipzig ernannt, wo er die Blätter aus dem Alten Testament sofort in einer mustergültigen Ausgabe veröffentlichte, ohne jedoch den Fundort preiszugeben. 1853 bereiste Tischendorf ein zweites Mal den Orient, um den Rest der Handschrift zu finden. Aber er entdeckte nur ein kleines Bruchstück. Im Januar 1859 folgte seine dritte Orientreise. Seiner Frau Angelika schrieb er: «Ich gehe im Namen des Herrn und suche nach Schätzen, die seiner Kirche Frucht tragen sollen.» Für diese dritte Reise konnte Tischendorf sogar das Zarenhaus begeistern. Zar Alexander II. war der Schutzpatron der griechisch-orthodoxen Kirche. Er übernahm die Reisekosten und der Zarenbruder Grossfürst Constantin wurde Tischendorfs wichtigster Gönner.  

Die Mönche im Kloster kannten Tischendorf bereits bestens, doch an die 86 zurückgelassenen Blätter aus dem Bibelfund von 1844 konnte sich keiner erinnern. Erneut durchforstete Tischendorf die Räume, in denen die Bibliothek mit ihren Tausenden von Büchern untergebracht war. Doch ohne Erfolg! Kurz vor der Abreise bestieg er den traditionellen Moseberg und als er sich bei der Rückkehr bei einem Klosterbruder erfrischte, zeigte dieser ihm «seine» griechische Bibel. Es war der 4. Februar 1859 – ein Datum, das in die Bibelgeschichte eingegangen ist! Der Mönch brachte Tischendorf ein dickes Pergamentbündel, das in einem roten Tuch eingeschlagen war. Dieses Pergamentbündel waren aber nicht nur die 86 zurückgelassenen, sondern weitere Blätter aus dem Alten Testament und das komplette Neue Testament! Tischendorf war am Ziel seiner Wünsche. Seiner Frau schrieb er: «Ein Siegesbulletin hab’ ich zu geben gehofft: nun wahrhaftig, der Herr hat’s gefügt, dass es eines sei. Einen so grossen Segen hat er auf meine Forschungen beim ersten Schritte schon gelegt, dass ich nur Tränen der Rührung als Antwort darauf hatte … Was mir nicht Ruhe gelassen hat zu Hause, so sehr es auch an das menschliche Trachten und Verlangen sich anlehnte, das war der Ruf des Herrn. Hatte ich mir’s schon immer gesagt: ich gehe im Namen des Herrn und suche nach Schätzen, die seiner Kirche Frucht tragen sollten: jetzt wusst’ ich’s und erschrak wahrhaftig vor der Wahrheit selber. Die ganze Handschrift, so wie sie nun ist, ist ein unvergleichliches Kleinod für die Wissenschaft und die Kirche» (Kairo, 15. Februar 1859).

Ein Erwerb der Handschrift war unmöglich, aber die Idee einer Schenkung an den russischen Zaren gefiel den Mönchen. Diese war allerdings nicht sofort durchführbar, da der bisherige Erzbischof der Sinaiten gerade verstorben war und ein neuer erst gewählt und anerkannt werden musste. Solange die Schenkung nicht sofort möglich war, sollte die Handschrift Tischendorf zu Publikationszwecken gegen einen Bürgschein des russischen Botschafters mitgegeben werden. Zar Alexander II. war hocherfreut über den Fund und übernahm die Kosten der Veröffentlichung für ein Faksimile (detailgetreue Nachbildung). Die Universität Leipzig richtete für Tischendorf einen extra nur für ihn geschaffenen Lehrstuhl für «Biblische Paläographie und Theologie» ein. In der unglaublichen kurzen Zeit von drei Jahren – Tischendorf muss Tag und Nacht geschuftet haben – gelang die Herkulesarbeit. 1862 erschien der Codex Sinaiticus als prachtvoller Nachdruck für den russischen Zaren zum 1000-Jahr-Jubiläum des Russischen Reiches. Dieses Faksimile verschenkte der Zar an alle bedeutenden Bibliotheken und Königshäuser. Daneben veröffentlichte Tischendorf auch noch eine preiswerte Handausgabe und diverse Publikationen über die Entdeckungsgeschichte der «Sinaibibel», wie der Codex damals genannt wurde. Auch seine Textausgabe des Neuen Testaments überarbeitete Tischendorf erneut. Wie bereits erwähnt, hat Tischendorf im Laufe seines Forscherlebens 24 Auflagen des Neuen Testaments in griechischer Sprache herausgebracht. Den Höhepunkt stellt dabei die «Editio Octava Critica Maior» dar (Band I 1869 / Band II 1872), die bis heute in der neutestamentlichen Textforschung benutzt wird und als Meilenstein gilt. In dieser Ausgabe nimmt der Codex Sinaiticus neben dem Codex Vaticanus die wichtigste Stellung als Textzeuge ein. Viele textkritische Fragen konnten geklärt und zugleich auch aufgezeigt werden, dass das Neue Testament ganz hervorragend überliefert ist. Bis heute stellt die Entdeckung des Sinaiticus aus dem 4. Jh. alle anderen Funde in den Schatten. Es gibt inzwischen zwar ältere Belege für das Neue Testament, doch nur der Sinaiticus bietet das komplette Neue Testament!

Die Mönche machten die wertvolle Handschrift 1869 dem Zaren zum Geschenk, worauf das Kloster 9.000 Rubel als Gegengeschenk erhielt, so wie das im Orient üblich ist. Tischendorfs Entdeckung der Handschrift ist oft beschrieben worden. Bereits kurz vor seinem Tod (1874) gab es allerdings Stimmen, die Tischendorf unterstellten, er habe die Handschrift arglistig den Sinaiten abgenommen. Oft wird auch behauptet, er habe die Handschrift nur ausgeliehen, aber sie trotz Versprechen nicht mehr zurückgebracht, sondern dem Zaren ohne Erlaubnis der Mönche vermacht. Im Rahmen des digitalen Forschungsprojektes wurden die Archive in Deutschland, England aber vor allem in Russland und im Katharinenkloster intensiv durchsucht – mit grossem Erfolg! So wurde die Schenkungsurkunde der Mönche an den russischen Kaiser im alten Zarenarchiv gefunden. Professor Christfried Böttrich von der Universität Greifswald (früher Leipzig) hat u.a. für das digitale Forschungsprojekt diese Dokumente auf Deutsch veröffentlicht. Seinem Fazit kann ich mich nur anschliessen: «Der Transfer des ‹Codex Sinaiticus› nach St. Petersburg erfolgte – trotz … aller schwierigen Begleitumstände – rechtlich korrekt. Von einem Diebstahl jedenfalls kann keine Rede sein.» Seit über zwei Jahrzehnten forsche ich über Tischendorf. Seine Nachfahren haben mir den Familiennachlass zur Bearbeitung übergeben (u.a. 300 Liebesbriefe aus der Zeit von 1838–1868 mit über 1.000 Seiten). Daneben arbeite ich seit Jahren auch mit dem wissenschaftlichen Nachlass, der in der Universität Leipzig aufbewahrt wird. Aus all den Dokumenten geht zweifelsfrei hervor: Tischendorf war nicht nur ein gläubiger Christ, sondern ein Ehrenmann durch und durch! 

Zum 200. Geburtstag zeigte die Stadt Lengenfeld (in der Nähe von Dresden) eine grosse Bibel- und Tischendorfausstellung im Rathaus. Die begleitenden Festvorträge und der Gottesdienst wurden sehr gut besucht. Tischendorfs Ur-urenkelin reiste extra aus London an und rund 3.000 Besucher strömten aus allen Teilen Deutschlands in das kleine vogtländische Lengenfeld. Es ist eine Freude zu sehen, wie dieser einzigartige Bibelwissenschaftler und seine wissenschaftlichen Arbeiten das Interesse der Menschen erneut erweckt hat, denn seine Forschungsabenteuer sind spannender als jeder Krimi. Tischendorfs Lebensmotto war: «Am Zweifel erstarkt die Wissenschaft, doch nur der Glaube heiligt sie!» Er hat daher auch immer versucht, alle seine Forschungen der christlichen Allgemeinheit zu erklären und zugänglich zu machen. Leider ist das faszinierende Leben und das Wirken Tischendorfs aber auch bei vielen Christen heute gänzlich unbekannt. Daher ist es sehr zu begrüssen, dass angestrebt wird, seine Geburtsstadt in «Tischendorfstadt-Lengenfeld» umbenennen zu lassen.

Tischendorf sagte einmal: «Sie wissen, dass es die Begeisterung für das Buch der Bücher war, die mich aus den Armen der Freunde fortriss und unter fremdem Himmel sah, suchen nach verborgenen Kleinoden» (Brief aus Jerusalem, 15.7.1844). Bibelschätze hat Tischendorf in Mengen gefunden und durch ihn wurde die moderne Textforschung begründet. Weitere Textfunde zum Neuen Testament im heissen Wüstensand Ägyptens in den 1930er- und 1950er-Jahren des letzten Jahrhunderts belegen die hervorragende Überlieferung der neutestamentlichen Schriften. Allen Unkenrufen zum Trotz: das Neue Testament ist bestens belegt. Kein Text der Antike kann mit einer solchen Überlieferungsfülle aufwarten. Gott wacht über Sein Wort! 

Die Handschriftenfunde von Tischendorf sind ein Meilenstein in der Textforschung und den Funden der Schriftrollen vom Toten Meer in ihrer Bedeutung ebenbürtig. Die Funde Tischendorfs zieren heute die grössten Museen der Welt. Unter allen Funden ragt aber die Entdeckung des Codex Sinaiticus heraus. Mit ihm haben wir das ganze Neue Testament in einer Abschrift aus dem 4. Jh. n.Chr. vorliegen! Bei Johannes 20,31 lesen wir den Grund für die Abfassung der Evangelien: «Diese aber sind geschrieben, dass ihr glaubet, Jesus sei Christus, der Sohn Gottes, und dass ihr durch den Glauben das Leben habet in seinem Namen.» Wenn wir dieses Leben in Jesus als dem Messias, als dem Heiland und Retter der Welt persönlich ergreifen, dann wird die Bibel für uns zu einem ganz persönlichen Buch. Und dann darf für unser Leben der Psalm 119,162 ebenso gelten wie für den Bibelforscher Tischendorf: «Ich freue mich über dein Wort wie einer, der grosse Beute macht.»

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